Eine Anleitung für deinen Leseprozess
Warst du erstaunt, als du den Titel dieses Beitrags gelesen hast? Tatsächlich können Schreibblockaden mit dem Lesen zu tun haben. Wenn du deine Texte nämlich nicht ganz genau und aufmerksam liest, dich wirklich tief mit ihnen auseinandersetzt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es beim Schreiben hakt.
Denn nur was wir verstanden haben, können wir schreibend verarbeiten. Auf diesen Gedanken werde ich am Ende des Beitrags nochmals zurückkommen, weil ich dazu eine Anmerkung aus meiner eigenen Erfahrung habe.
Anleitung für deinen Leseprozess
Diese Anleitung soll dich unterstützen egal, ob du eine Hausarbeit, Bachelorarbeit, Masterarbeit oder Dissertation schreibst.
Ich möchte dir hier einen Leseprozess vorstellen, der dir dabei hilft, den Inhalt eines wissenschaftlichen Textes vollständig zu erfassen. Nimm meine Anleitung bitte als Vorschlag und wandle sie gern für dich ab, wenn es dir sinnvoll erscheint.
Schritt 1: Stecke zunächst einmal den Rahmen ab.
Mache dir bitte klar, wann und wo der Text erschienen ist. Kommt er aus einer Zeitschrift, womöglich aus einer, deren Beiträge ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen haben? Solche Texte sind von hoher Qualität, da sie vorab begutachtet wurden. Falls du ein Buch vor dir hast, schau dir kurz an, in welchem Verlag es erschienen ist, und wirf einen Blick ins Impressum. Beachte zudem das Inhaltsverzeichnis, um den Kontext des Kapitels zu erfassen, das du gleich lesen wirst.
Mache eine kurze Recherche zu der Autorin oder dem Autor, falls du sie noch nicht kennst. Ist das eine Wissenschaftlerin oder ein Praktiker? Wo ist sie oder er aktuell tätig?
Damit hast du den Rahmen schon mal abgesteckt.
Schritt 2: Verschaffe dir einen ersten Überblick.
Blättere den Text durch, lass deine Augen über die Seiten wandern, lies die Zwischenüberschriften, sofern es welche gibt, schau dir allfällige Bilder, Tabellen oder Grafiken an. Gibt es Klammerbelege oder Fußnoten und wie umfangreich sind sie? Wenn du ein Buch gewählt hast, wirf einen Blick auf das Literaturverzeichnis.
Schritt 3: Lies den Text in Ruhe durch und markiere wichtige Stellen.
Lies den gesamten Text Satz für Satz, Wort für Wort und streiche dabei alles an, was dir für dein Thema relevant erscheint. Wenn du auf Papier arbeitest, nimm einen Leuchtstift – ich verwende gerne einen gelben. Wenn du digital arbeitest, finde einen anderen Weg, um einzelne Passagen zu markieren.
Schritt 4: Prüfe und ergänze deine Markierungen.
Lies den Aufsatz oder das Buchkapitel ein weiteres Mal komplett und überprüfe, ob du bereits alles Wichtige angestrichen hast oder noch mehr Passagen markieren möchtest. Nimm dir bitte wirklich Zeit. Lies den Text in Ruhe und mit voller Aufmerksamkeit.
Schritt 5: Setze Highlights.
Kennzeichne nun innerhalb der bereits gekennzeichneten Passagen einzelne Worte oder Sätze nochmals eigens mit einer anderen Farbe. Setze also Highlights.
Wenn ich auf Papier arbeite, nehme ich dafür gerne einen Rotstift und unterstreiche einzelne Wörter oder Sätze. Lass dich dabei von folgenden zwei Fragen leiten:
- Was sind die Kernaussagen der Autorin oder des Autors?
- Wo kommt sie oder er zu neuen Ergebnissen?
Das sollte dir am Ende von Schritt 5 klar geworden sein. Ist das nicht der Fall, lies den Text oder die Highlights bitte ein weiteres Mal.
Schritt 6: Mache am Rand Anmerkungen.
Gehe nun alle markierten und hervorgehobenen Stellen durch und mache am Rand Anmerkungen (falls du das nicht so und so schon gemacht hast).
Was meine ich mit „Anmerkungen“?
Anmerkungen sind kurze Notizen oder Memos. Das können ein Rufzeichen oder ein Fragezeichen sein, ebenso kurze Gedanken wie Das muss ich noch mal woanders nachlesen oder Das
verstehe ich noch nicht ganz oder Interessant! oder Ganz wichtig!. Du kannst auch mit dir in der Du-Form kommunizieren und zum Beispiel schreiben: Da musst du
noch mal bei XY nachlesen.
Auf jeden Fall trittst du an dieser Stelle in einen Dialog mit dem Text.
Schritt 7: Gehe die Textbelege durch.
In der Regel wird die Autorin oder der Autor Kurzbelege verwendet haben. Du solltest nun schauen, welche Literatur sich hinter den Kurzbelegen genau verbirgt. Prüfe, ob da etwas Wichtiges für deine Hausarbeit, Bachelorarbeit, Masterthesis oder Dissertation dabei ist. Diese Literatur solltest du dir notieren.
Vielleicht bist du jetzt etwas erstaunt und denkst dir:
Hey, Huberta, das ist ja total aufwendig!
Fazit: Mehrmaliges Lesen ist in der Regel notwendig!
Sobald ein Text komplexer ist, braucht es immer mehrere Lesedurchgänge. Und ja, das ist aufwendig, vor allem zeitaufwendig. Allerdings kannst du mit einem gründlichen Leseprozess den Schreibprozess beschleunigen und vor allem auch Schreibblockaden vorbeugen.
Daher mein Rat: Investiere diese Zeit und habe mit dir (und dem Text) Geduld.
Ich spreche hier vor dem Hintergrund von viel Erfahrung als Wissenschaftlerin, die jede Menge publiziert hat.
Es geht um eine schrittweise Annäherung an Texte.
Du und ich, wir nähern uns wissenschaftlichen Texten Schritt für Schritt an. Wir durchdringen sie damit gedanklich langsam und steigen Schicht für Schicht durch das Thema durch.
So machen wir uns den Text gewissermaßen zu eigen. Wir werden mit ihm vertraut, sodass wir am Ende in der Lage wären, vor dem Hintergrund des Gelesenen mit jemand anders ein Gespräch über den Text zu führen.
Was meine ich damit?
- Wir wissen, wer die Autorin oder der Autor ist.
- Wir kennen das Erscheinungsjahr.
- Und wir kennen vor allem die wichtigsten Aussagen bzw. Erkenntnisse, die für unser Thema relevant sind.
Also, wir können über das Gelesene sprechen. Ich finde diese Vorstellung sehr hilfreich, denn letztlich ist dein wissenschaftlicher Text ebenso wie dieser Text hier nichts anderes als eine Art Vortrag für unsere Leserinnen und Leser. Wir vermitteln ihnen Wissen, und zwar klar und natürlich kritisch aufbereitet.
Okay, wie geht es weiter?
So kommst du leichter ins Schreiben!
Schritt 1: Bring dich in Startposition.
Wenn du nur diesen einen Artikel oder dieses eine Buchkapitel für deine Uni-Arbeit auswertest, genügt es, wenn du den Text entweder auf Papier neben dir liegen oder auf einem Tablet oder einem zweiten Monitor geöffnet hast.
Solltest du mehrere Texte für deine Argumentation verwenden, verfahre mit ihnen ebenso, wie ich das hier erklärt habe. Wenn es dann ans Schreiben geht, empfehle ich dir, dass du alle Texte, die du gerade brauchst, geöffnet hast – entweder auf dem PC, einem Tablet oder als Kopien, Scans oder Ausdrucke auf deinem Schreibtisch.
Klingt banal, ist es aber nicht! Viele Studierende kopieren nämlich einzelne Absätze aus der Literatur in ihre Uni-Arbeit und schreiben sie dann um. So aber funktioniert das nicht. Es geht ums Lesen, Durchdenken und dann ums Schreiben und keinesfalls ums Umschreiben.
Siehe dazu auch diesen Blogartikel mit Video!
Schritt 2: Starte entspannt in den Schreibprozess.
Nun ist die Herausforderung, das Gelesene zu Papier zu bringen. Erst mal tief durchatmen, denn an dieser Stelle wird es für viele Studierende stressig. Vielleicht eben auch für dich.
Vorab: Erlaube es dir, unperfekt zu sein.
Damit verhinderst du eine Schreibblockade!
Keine Angst vor dem leeren Blatt!
Wenn es dir schwerfällt, sofort ganze Sätze bzw. einen Fließtext zu schreiben, hast du folgende Möglichkeiten:
- Schreibe nur Stichpunkte auf.
- Mache erst mal ein Mindmap.
- Erzähle dir selbst durch deinen Arbeitsraum wandernd das, was du verstanden hast und nun zu Papier bringen möchtest. Stell dir dabei vor, dass du das Ganze einer guten Freundin oder einem guten Freund erzählst. Wenn du magst, nutze ein Tool auf dem Smartphone oder PC, mit dem du Texte diktieren kannst.
Erst nach diesem Zwischenschritt (auf den ich demnächst hier im Blog nochmals ausführlicher eingehen möchte) fängst du an, ganze Sätze zu formulieren.
Und wichtig: Vergiss bitte nicht auf die Belege!
Meine persönliche Erfahrung mit dem Lese- und Schreibprozess
Oben habe ich gesagt, dass wir nur das zu Papier bringen können, was wir auch verstanden haben. Das Spannende ist: Wir, also ich und jetzt auch du, merken beim Schreiben sehr genau, wenn wir etwas nicht verstanden haben.
Und dann heißt es während des Schreibprozesses, zum Ausgangstext zurückzukehren. Selbst wenn wir ihn schon zweimal oder auch dreimal oder noch öfter gelesen haben, müssen wir ihn erneut zur Hand nehmen und nachlesen.
Das bedeutet:
Während des Schreibprozesses pendeln wir immer wieder zur Literatur.
Damit vertieft sich während des Schreibprozesses natürlich auch das Verständnis für unser Thema – und genau deshalb kann wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben so erfüllend und bereichernd sein.
Abbildungsnachweis: Bild oben: Shutterstock.com, 90851603, benchart | Foto unten: andrea sojka fotografie