Anja Becker: Spezialistin für Medizinlektorat

Erfolgreich in der Nische

Foto von Anja Becker

Als Lektorin oder Lektor freiberuflich Fuß zu fassen, ist nicht einfach. Der Wettbewerb in der Branche ist hoch. Es braucht Ausdauer, Engagement und Expertise, um ein Business aufzubauen, von dem man leben kann. Dr. Anja Becker ist das gelungen, und zwar indem sie sich auf eine Nische spezialisiert hat: den Bereich "Medizinlektorat".

In dem Interview erzählt sie unter anderem von ihrem Weg als Veterinärmedizinerin zur freien Lektorin und von den verschiedenen Herausforderungen, denen sie bislang begegnet ist und immer wieder begegnet. Es geht unter anderem um sparsame Kundinnen und Kunden, der Arbeit im Team, die Rolle des Blogs, die Preise und KI.

 

Liebe Anja, du bist promovierte Veterinärmedizinerin. Wie kommt es, dass du nun mit Menschen und ihren Texten arbeitest?

Schöne Frage, Huberta! Denn ich arbeite mit Menschen – und nicht nur an Texten. Ich helfe. Das macht mir Spaß. Als Tierärztin Tiere zu behandeln, hat mich nicht wirklich erfüllt. Humanmedizinerin zu sein, konnte ich mir aber auch nie vorstellen, denn die Schicksale der Kranken wären mir zu nahe gegangen.

 

Vor einigen Jahren habe ich dann aber, neben meiner Liebe zur Sprache, mit Medizinlektorat Dr. Becker einen Kompromiss gefunden: 1. den Leuten zu helfen, die Texte publizieren möchten, und 2. indirekt Patienten zu helfen, nämlich über das Verbreiten von Fachwissen über Bücher, Zeitschriften, Websites etc.

 

Dabei profitiere ich sehr von meinen Berufserfahrungen in ganz unterschiedlichen medizinischen Bereichen: Klinik, Pharmaindustrie, präklinische Forschung, Universität. Das war alles ganz spannend. Aber beruflich erfüllt hat mich erst meine Tätigkeit als Lektorin.

 

2015, als ich aus Spaß an der Freude, wie man so schön sagt, eine Doktorarbeit lektorierte, traf es mich wie ein Blitz: Das wollte ich zukünftig machen! So bereitete ich meine Selbstständigkeit vor, trat 2016 dem Verband der Freien Lektorinnen und Lektoren (VFLL e. V.) bei – und noch heute setze ich mich jeden Morgen freudig an den Schreibtisch, um Menschen zu unterstützen, ihre medizinischen Texte zu optimieren.

 

Von Zeit zu Zeit gebe ich außerdem Schreibseminare. Das macht viel Spaß, weil ich da den direkten Austausch mit den Textverfassenden habe.

 

Welche Herausforderungen begegnen dir typischerweise im Lektorat von medizinischen Texten? Gibt es bestimmte Bereiche, die besonders herausfordernd sind? Ich denke da speziell an das Fachvokabular. Du bist ja vermutlich nicht mit dem gesamten Vokabular der Medizin vertraut, oder doch?

Herausforderungen gibt es für mich speziell im Bereich Medizin nicht. Eher Herausforderungen, die alle betreffen, die professionell lektorieren: Werde ich meinem Perfektionismus gerecht? Ich muss mich dabei sowohl in den Schreibenden als auch in den zukünftigen Leser hineinversetzen, muss mich intensiv mit dem Thema auseinandersetzen, von dem der Text handelt. Aber genau das ist ja das Reizvolle!

 

Da du das Fachvokabular ansprichst: Das habe ich während meines Studiums und meiner Promotionszeit, ach, während meiner ganzen beruflichen Tätigkeit gelernt und ich lerne immer noch täglich dazu – natürlich! Herrlich ist das.

 

Manches habe ich zuvor nie gehört; das schlage ich dann nach, zum Beispiel im Pschyrembel. Fachliche Zusammenhänge prüfe ich, wenn mir etwas unlogisch erscheint. Dafür nutze ich Seiten evidenzbasierter Medizin, seriöse Quellen. Heutzutage ist das Internet ja voll von Schrottseiten. Da muss man genau hinschauen, wo man sucht.

 

Gibt es Anfragen, die du grundsätzlich ablehnst, zum Beispiel weil die Texte nicht im Bereich der evidenzbasierten Medizin angesiedelt sind?

Ich würde Texte ablehnen, die einen rechtsradikalen Hintergrund haben. So etwas ist in der Medizin aber eher selten. Einmal hatte ich den Fall, da klang in einem Buchmanuskript eine Formulierung rassistisch. Das war aber keine Absicht des Autors und ich habe eine bessere Formulierung gefunden.

 

Ansonsten bin ich offen für alles aus dem Bereich Medizin und Gesundheit.

 

Bei unlogischen Passagen schreibe ich aber durchaus das an den Rand, was sich auch der kritische Leser fragen würde. Fällt mir beim Probelektorat auf, dass die Dichte meiner die Logik betreffenden Anmerkungen zu hoch ist, teile ich das der oder dem Textverfassenden mit und bitte, den Text erst einmal selbst zu prüfen / zu überarbeiten, bevor dieser ins Lektorat kommt.

 

Es gibt Kundinnen und Kunden, die im Lektorat gerne sparen möchten. Sie denken dann zum Beispiel, dass ein Korrektorat genügt, obwohl eigentlich ein Lektorat angebracht wäre. Manche wünschen sich aus Kostengründen auch nur einen Korrekturdurchgang. Wie gehst du mit solchen Anfragen um?

Solche Anfragen habe ich auch, vor allem von Doktoranden, die sparen wollen oder müssen. In einem Telefonat erkläre ich dann, dass mindestens zwei Korrekturrunden nötig sind, um möglichst alle Fehler zu eliminieren.

 

Ich versuche aber immer, eine Lösung zu finden, die das beste Preis-Leistungs-Verhältnis bietet. Wenn ein Doktorand zum Beispiel kaum Geld, dafür aber viel Zeit hat, gebe ich Tipps, was er tun kann, um den Text selbst zu verbessern.

 

Entweder, indem ich nur ein paar Seiten lektoriere und er die Anmerkungen, die ich gemacht habe, auf das ganze Manuskript anwendet, oder ich biete ihm mein Schreibskript für Mediziner an, das ich als Hilfe zur Selbsthilfe geschrieben habe.

 

Wenn ich dann im Anschluss an die eigene Textoptimierung das Manuskript bekomme, bin ich viel schneller mit dem Lektorat. Und je schneller ich einen Text korrigieren kann, also wenn dieser weniger Fehler enthält, umso preisgünstiger wird die Bearbeitung durch mich.

 

Du bist gut ausgelastet und hast inzwischen sogar ein Team, das dich unterstützt. Auf welchem Weg kommen Kundinnen und Kunden zu dir?

Vor allem über meine Website kommen Verlage, Pharmafirmen, Healthcare-Agenturen etc., aber auch Ärzte mit ihrer Praxis-Website oder Selfpublisher zu mir. Außerdem findet man mich über das Lektorenverzeichnis des VFLL. Da ich viele Stammkunden habe, bin ich oft über Monate hinweg ausgebucht. Dann tut es mir leid, wenn ich Anfragenden absagen muss.

 

Umso froher bin ich dann, wenn ich ihnen eine Lösung anbieten kann, nämlich Unterstützung durch eine oder einen meines Teams. Jeder agiert aber selbstständig, ich bin nur das Bindeglied. Es gab auch schon Aufträge, die waren so umfangreich, dass wir sie nur als Team wuppen konnten. Ein einzelner Lektor hätte dafür Monate gebraucht.

 

Wir als Team arbeiten einfach schneller und sehr effektiv zusammen – und einheitlich in der Textkorrektur. Das mögen die Auftraggebenden. Und uns macht diese Zusammenarbeit viel Spaß!

 

Sind deine Aufträge eher in der Tier- oder in der Humanmedizin angesiedelt?

Etwa 95 Prozent der Texte, die auf meinem Schreibtisch landen, behandeln humanmedizinische Themen. Das finde ich toll! Davon nehme ich auch persönlich viel mit.

 

Für mich ist der Blog ein ganz wichtiges Instrument in der Kundenakquise. Wie sieht das in deinem Fall aus: Warum hast du dich entschieden, einen Blog zu starten?

Für mich ist der Blog eine Möglichkeit auszudrücken, was mich beschäftigt. So zum Beispiel über die Genderthematik* zu schreiben – mit meiner ganz persönlichen Meinung oder ganz konkreten Tipps, wie Ärztinnen und Ärzte, Ärzt:innen und die ganze Ärzteschaft 😊 am besten geschlechtsneutral formulieren können (siehe den Beitrag Genderhilfe für Ärztinnen und Ärzte).

 

Auch meine Situation während der Coronakrise habe ich beschrieben. So haben meine (potenziellen) Kunden die Möglichkeit, mich und meine Dienstleistung besser kennenzulernen. Für die gezielte Kundenakquise bzw. SEO veröffentliche ich zu selten neue Beiträge.

  

* Der aufmerksam Lesende wird bemerkt haben, dass ich das generische Maskulinum verwende. Meiner Meinung nach ist der Text dadurch besser lesbar. Sooft „unverkrampft“ wie möglich, habe ich in dem Interview zudem neutrale Begriffe wie Menschen, Kranke, Lesende, Leute, Textverfassende, man, Kundschaft, Schreibende, Auftraggebende und Team verwendet. 

Es gibt viele Lektorinnen und Lektoren, die um ihre Existenz bangen. Sie haben kaum Kundschaft und versuchen dann, über möglichst niedrige Preise doch irgendwie den Einstieg in den Markt zu finden. Wie hast du deine Preise gefunden?

Am Anfang meiner Lektorenzeit habe ich ein paar Monate lang freiberuflich für ein Lektoratsdienstleistungsunternehmen medizinische Texte korrigiert. Dabei habe ich ein Gefühl für den Markt bekommen, den Zeitaufwand für ein stilistisches und ein Fachlektorat, für Kundenkommunikation. Dafür habe ich gutes Kundenfeedback erhalten. Das habe ich, nach Rücksprache, als Kundenstimmen auf meine Website gesetzt; das hat Vertrauen geschaffen und neue Kundschaft kam daraufhin direkt zu mir.

 

Aufgrund der so gewonnenen Erfahrung konnte ich meine Preise festsetzen, basierend auf einem Stundenhonorar, das mir ermöglicht, meinen Lebensunterhalt und meine Versicherungen zu finanzieren, meine Rente zu sichern und meine einkommensfreie Zeit wie Urlaub zu überbrücken. Reich wird man als Lektorin aber leider nicht ...

 

Wenn du heute nochmals mit deinem Business starten würdest: Was würdest du anders machen?

Kurze Antwort: Ich würde alles wieder so machen! Ohne mein Studium der Tiermedizin und meinen „Umweg“ über die vielen beruflichen Stationen hätte ich nicht so viel Wissen, wie ich jetzt habe.

 

Okay, und dann noch ein Thema, das uns gerade alle beschäftigt: Künstliche Intelligenz! Nutzt du zusammen mit deinem Team KI im Korrekturprozess? Und inwiefern werden ChatGPT & Co. deiner Meinung nach die Lektoratsbranche verändern?

Ich lasse nach dem ersten Durchgang meines Lektorats ein Korrekturprogramm über den Text laufen. Das erkennt zwar viele „Fehler“, die gar keine sind, wie Namen und Fachbegriffe, aber es findet doch noch den einen oder anderen Tippfehler. Das ist schon toll.

 

Meine Kolleginnen und mein Kollege aus meinem Team und ich, aber auch der VFLL, dem wir angehören, beschäftigen sich intensiv mit dem Thema KI. Das ist auch wichtig, denn wir müssen ja mit der Zeit gehen und die Vorteile für uns – und demnach für die Auftraggebenden – nutzen, aber auch achtsam sein, kritisch bleiben.

 

Auch Künstliche Intelligenz macht Fehler, wenn auch im Laufe der Zeit immer weniger. ChatGPT 4.0 vom Mai 2023 hätte aktuell in Bayern "das Abi mit Bravour bestanden", schrieb der Bayerische Rundfunk, ganz im Gegensatz zu ChatGPT 3.5 vom Februar dieses Jahres!

 

Alles, was mit KI zu tun hat, ändert sich rasend schnell, aber in welchem Maße genau? Schwer zu sagen. Ich hoffe, dass wir, die wir fundierte und gewissenhafte Lektorate anbieten, noch eine ganze Weile unersetzbar bleiben. Auch wenn sich die Art und Weise, wie wir zukünftig arbeiten werden, vermutlich in Kürze verändern wird, mehr in Richtung Faktencheck vermutlich.

 

Dr. Anja Becker

Foto von Anja Becker

Anja Becker ist promovierte Tierärztin und hat 2015 das Stethoskop aus Überzeugung an den Nagel gehängt.

 

Seitdem prüft sie als freiberufliche Lektorin (human-)medizinische Texte aller Art auf Herz und Nieren und therapiert sie leidenschaftlich mit dem (virtuellen) Rotstift. Ihre Expertise basiert auf ihren Erfahrungen an der Uni sowie in der Praxis, in der Pharmaindustrie und in der Forschung.

 

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