Einige hundert Fehler in einem druckfertigen Unternehmensmagazin korrigiert und dann der Anruf des Kunden: Sie haben da etwas übersehen! Das ist mir und meinem Team eben passiert. Auch nach zwölfjähriger Erfahrung in der Schreibwerkstatt lässt so eine Nachricht meine beiden Lektorinnen und mich erst einmal zusammenfahren.
Denn natürlich streben wir Fehlerfreiheit im Lektorat an.
Wir haben hohe Ansprüche an uns und unsere Arbeit und ja, wir wünschen uns zufriedene Kundinnen und Kunden. Wir wissen aber auch, dass Fehler passieren beziehungsweise übersehen werden können und dass es in so einem Fall gut ist, erst einmal tief durchzuatmen und dann der Sache nachzugehen. Ich werde am Ende dieses Beitrags darauf zurückkommen.
Jedenfalls habe ich auf Twitter im Kreise der Kolleginnen und Kollegen gefragt, wie sie das mit der Fehlerfreiheit sehen.
Ist ein Text nach dem Korrektorat bzw. Lektorat tatsächlich fehlerfrei?
Ich freue mich, dass ich mit Inga Beißwänger, Philipp Hartmann und Julia Schoch-Daub drei Profis aus der Branche für ein Statement zu dieser Frage gewinnen konnte. Bevor gleich alle drei selbst zu Wort kommen, möchte ich gerne noch anmerken, dass in der Schreibwerkstatt ein Lektorat immer ein Korrektorat beinhaltet und die beiden Kolleginnen sowie der Kollege bewusst nicht auf die Unterschiede zwischen diesen beiden Serviceleistungen eingehen.
Also, was sagen andere Lektorinnen und Lektoren zum Wunsch nach Fehlerfreiheit?
Inga Beißwänger: Fehler im Lektorat – ein Widerspruch?
Ganz klar: Studierende, Firmen, Autor*innen etc. beauftragen eine professionelle Lektorin, um einen Text ohne Fehler zu bekommen. Jedoch: Kann eine Lektorin hundertprozentige Fehlerfreiheit
garantieren? Nein – zumindest, wenn sie seriös arbeitet (oder nicht allein). Denn auch eine Lektorin ist nur ein Mensch und macht daher Fehler – in diesem Fall: übersieht Fehler. Der Verband der
Freien Lektorinnen und Lektoren e. V. schreibt sogar in seinen Richtlinien für das Freie Lektorat, an die alle Mitglieder gebunden sind:
Freie Lektorinnen und Lektoren im VFLL halten die Regeln für einen lauteren Wettbewerb ein. Sie machen weder in ihrer Werbung noch ihren Auftraggebern gegenüber unrichtige oder irreführende Angaben und unterlassen Werbeaussagen, die eine hundertprozentige Fehlerfreiheit in Texten versprechen.
Die Frage der Fehlerquote
Sicherlich finden die professionell auf Fehler geschulten Augen mehr. Gibt es dafür eine Zahl? Nun, in Kreisen der freien Lektor*innen kursiert die 90-Prozent-Quote, die Johannes Sailler in seinem Handbuch Korrekturlesen nennt. Genauer gesagt schreibt er darin von „bis zu 90 Prozent der gravierenden Fehler“, die „besonders gute Korrektorinnen und Korrektoren“ finden. Dabei spricht er von seinen Erfahrungen, die er als Korrektor in den Redaktionen von Duden, Brockhaus und Meyers gemacht hat.
Allerdings: Um auf irgendeine Zahl zu kommen, müsste man erst sicher sein, alle Fehler gefunden zu haben. Erschwerend kommt hinzu:
- Nicht alle „Fehler“ sind klar definiert.
- Jeder Text ist anders.
- Jeder Auftraggebende hat andere Wünsche und Erwartungen.
Sie sehen: Die Voraussetzungen für die Arbeit der freien Lektorin ist niemals gleich. Daher ein wichtiger Tipp für freie Lektor*innen und ihre Auftraggebenden: Klären Sie jeden Auftrag vorab so detailliert wie möglich und halten Sie das Vereinbarte schriftlich fest. Das beugt Missverständnissen und unrealistischen Erwartungen vor. Meist wünschen sich die Auftraggebenden übrigens mehr als das reine Fehlerfinden – sprich: Korrektorat.
Was tun, wenn die Lektorin Fehler übersehen hat?
Sprechen Sie sie – respektvoll – darauf an. Seien Sie sich sicher: Niemandem tut dies mehr leid als der freien Lektorin! Und sehen Sie nicht nur die Fehler – sondern auch, wie viele Fehler
dank der Lektorin vermieden worden sind.
So verständlich der Wunsch nach Fehlerfreiheit im Lektorat auch ist: Auftraggebende sollten sich bewusst sein, dass niemand vor Fehlern gefeit ist. Doch mit guter Kommunikation und gegenseitigem Verständnis ist schon viel getan.
Inga Beißwänger ist seit 2007 Wortpflegerin: zuerst als Journalistin bei einer Kölner Tageszeitung, seit 2013 in ihrem Text- und Lektoratsbüro „Das gepflegte Wort“. Als Texterin und Lektorin hat sie einen bunten Strauß an Lieblingsthemen – unter anderem Kochen/Ernährung, Karriere, Nachhaltigkeit und Spiritualität. Sie greift für Agenturen und andere Firmen, Privatpersonen und Verbände in die Tasten. Wenn sie nicht am Schreibtisch sitzt, singt sie, arbeitet in Ehrenämtern, macht Fortbildungen oder trainiert Tai-Chi.
Philipp Hartmann: Texte ohne Fehler? Ideal und Wirklichkeit
Wer mit dem Anspruch absoluter Fehlerlosigkeit an ein Lektorat oder Korrektorat herantritt, wird fast zwangsläufig enttäuscht werden.
Ein vollkommen fehlerfreier Text ist weniger ein realistisches Ziel als ein Ideal, dem man sich so weit wie möglich annähert. Dabei sollte man sich aber im Klaren darüber sein, dass man dieses
Ideal kaum je erreichen wird: In fast jedem längeren Text wird man bei genauerem Hinsehen den einen oder anderen Fehler entdecken.
Fehlerfreiheit und die Frage nach Aufwand und Nutzen
Die Frage der Fehlerfreiheit sollte als eine Frage von Aufwand und Nutzen betrachtet werden. Beim ersten Korrekturdurchgang ist der Nutzen am größten: Auf jeder
Seite finden sich ein, zwei oder mehr Fehler, die zudem oft sehr typisch sind und von einem geübten Auge leicht erkannt werden. Hier kann schnell eine deutliche Verbesserung des Textes erreicht
werden. Danach flacht die Kurve jedoch stark ab. Im zweiten Durchgang sind zwar immer noch einige Fehler zu entdecken, diese sind aber weniger offensichtlich und erfordern ein noch aufmerksameres
Lesen.
Mit jedem weiteren Durchgang werden dann immer weniger Fehler gefunden, ohne dass der dafür erforderliche Arbeitsaufwand geringer wird.
In der Ökonomie würde man hier von einem „abnehmenden Grenznutzen“ sprechen. In einem siebten oder achten Korrekturdurchgang könnten zwar noch weitere Verbesserungen erzielt werden, aber bei den meisten Texten stünde dieser minimale Nutzen in keinem Verhältnis zum Arbeitsaufwand – und den damit verbundenen Kosten.
Zwei bis drei Korrekturgänge genügen in der Regel
Im Normalfall genügen daher zwei bis drei Korrekturdurchgänge, bis ein Text so weit verbessert ist, dass er veröffentlicht werden kann. Eine genaue Quote, wie viele Fehler noch akzeptabel sind, lässt sich wohl nicht festlegen – wie so vieles liegt das im subjektiven Ermessen. Wegen vereinzelter kleiner Mängel sollte man sich jedoch nicht den Kopf zerbrechen, denn als Faustregel gilt: Ein Fehler, den ein erfahrener Lektor mehrfach übersieht, wird auch den meisten Leser:innen nicht auffallen.
Philipp Hartmann ist seit 2018 als Lektor tätig. Er studierte Germanistik an der Universität Leipzig und lebt heute in Mainz. Als freier Lektor betreut er vor allem
Sachbücher und akademische Arbeiten zu geistes- und sozialwissenschaftlichen Themen sowie (Auto-)Biografien.
Website und Blog von Philipp Hartmann
Julia Schoch-Daub: Lektorinnen und Lektoren sind auch nur Menschen
Wer seinen Text einem Profi anvertraut, hat den Wunsch, nach der Bearbeitung einen fehlerfreien Text zu erhalten. Das ist verständlich, keine Frage. Aber die Kunden vergessen dabei vielleicht, dass die Korrektoren auch nur Menschen sind.
Wie viele Fehler am Ende noch übrigbleiben, hängt stark davon ab, wie fehlerbehaftet das Manuskript zuvor war. Wenn ich in jeder Zeile fünf Fehler korrigieren muss, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass mal ein Fehler durchrutscht. Bei einem Manuskript nahezu ohne Fehler ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich alle finde.
Die Qualität des Ausgangstextes ist wesentlich
Gehen wir mal von einem durchschnittlich fehlerbehafteten Manuskript aus. Das ist idealerweise ein Mal von Word geprüft und die Kommasetzung einigermaßen korrekt. In einem solchen Text findet der gute Korrektor im ersten Durchgang mindestens 95 % der Fehler, im zweiten Durchgang mindestens 98 %. Da bleiben immer noch zwei Prozent übrig, diese aber noch zu finden, kann schwierig werden.
Je öfter der Korrektor den Text liest, desto eher neigt er dazu, Fehler einfach zu überlesen.
Übrigens habe ich bisher in jedem Buch noch Fehler gefunden, auch in Büchern von großen Verlagen. Das ist ärgerlich, aber eben auch menschlich.
Im Lektorat sieht das schon wieder ganz anders aus. Dort unterscheide ich gerne zwischen offensichtlichen Fehlern und „Gschmäckle“. Offensichtliche Fehler sollte jeder Lektor selbstverständlich anmerken. Wenn Orte oder Personen plötzlich Namen tauschen, wenn das Wetter nicht passt, wenn Wörter die Situation nicht wie gewünscht beschreiben …
Von diesen Fehlern gibt es reichlich anzumerken. Dann gibt’s aber eben auch noch die „Gschmäckle“, die jeder Lektor anders macht.
Manches ist auch eine Geschmackfsfrage
Wie viele Inquits sollen es denn sein? Wie viel „show“, wie viel „tell“ darf der Autor verwenden? Es gibt Wörter, die ich einfach nicht mag und konsequent streiche. Aber die „Gschmäckle“ sind keine Fehler! Ein Lektorat kann deshalb per se nicht „fehlerfrei“ sein, denn jeder Lektor hätte noch etwas anzumerken, das ihm nicht passt.
Am besten ist also, du löst dich von der „Fehlerfreiheit“, die unmöglich zu erreichen ist, und denkst von dem lektorierten Manuskript als beste Version deines Buches. Dann kommst du der Wahrheit schon ziemlich nahe. 😉
Julia Schoch-Daub hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht: Wissen aufsaugen! Als Lektorin begleitet sie sowohl Verlagsautoren als auch Selfpublisher auf ihrem Weg zum
fertigen Buch.
Ihre Leidenschaft gilt dabei vor allem historischen Romanen und Fantasybüchern, wenn sie Spannung braucht, auch gerne mal einem guten Krimi. In ihrer Freizeit bloggt sie unter anderem gerne
zu Themen rund um das Lektorat und kümmert sich um ihre Katze, wie es sich gehört.
Website und Blog von Julia Schoch-Daub
Fazit:
Keine Fehler nach dem Lektorat?
Die Sicht der anderen ...
Es ist schön zu sehen, wie Kolleginnen und Kollegen die Situation einschätzen. Wir liegen hier auf einer Linie und das tut doch irgendwie auch gut. Interessant, dass es keine klaren Statements zur Fehlerquote, also zum Verhältnis der gefundenen und der übersehenen Fehler, gibt.
Auch wir in der Schreibwerkstatt tun uns schwer, hier einen Prozentsatz zu nennen. Meine beiden Lektorinnen und ich (wir arbeiten seit mehr als zehn Jahren zusammen) haben diese Frage öfter diskutiert und sind bislang zu keinem klaren Ergebnis gekommen.
Okay, und nun nach so vielen Infos eine Zusammenfassung!
Fehlerfreiheit: Darauf kommt es an!
Die Statements von Inga Beißwänger, Philipp Hartmann und Julia Schoch-Daub machen deutlich, dass es auf die Qualität des Ausgangstextes ankommt, ob nach dem Lektorat noch Fehler in einem Text sein dürfen.
Auch die Textlänge spielt meiner Meinung nach eine Rolle. Ein Werbeplakat muss nach der Korrektur fehlerfrei sein, ein Folder, der nur wenig Text und kaum Fehler beinhaltet, sollte am Ende auch fehlerfrei sein. In einem dreißigseitigen Unternehmensmagazin mit mehreren Hundert Fehlern wird am Ende auch nach zwei oder drei Korrekturdurchgängen wahrscheinlich noch der eine oder andere Fehler drinnen sein.
Auch in einer achtzigseitigen Masterarbeit oder einem Roman mit dreihundert Seiten werden sich vermutlich nach dem Korrekturlesen durch eine Lektorin oder einen Lektor noch Fehler finden, und zwar egal, wie gut der Ausgangstext ist.
Zahl der Korrekturdurchgänge
Wichtig erscheint mir zudem der Hinweis von Philipp Hartmann im Hinblick auf Kosten und Nutzen. Zwei bis drei Korrekturdurchgänge sind Routine. Bei einem einigermaßen passablen Ausgangstext werden in einem vierten oder gar fünften Durchgang so gut wie keine Fehler mehr eliminiert, diese Durchgänge erhöhen für den Kunden oder die Kundin aber erheblich die Kosten.
Wo ist der Fehler passiert?
Nicht jeder Fehler wiegt aus meiner Sicht gleich schwer. Ein Fehler im Fließtext eines Unternehmensmagazins oder eines Romans ist weniger schlimm als ein Fehler in einer Überschrift. Krass sind Fehler, die am Cover übersehen wurden. Das sollte tatsächlich nicht passieren (und ist uns auch noch nicht passiert).
Tipp für Lektorinnen und Lektoren: Was tun, wenn die Kundin oder der Kunde „mehrere Fehler“ reklamiert?
Wenn du Lektorin oder Lektor bist und ein E-Mail oder einen Anruf bekommst mit dem Hinweis, du hättest Fehler übersehen, rate ich zu zwei Dingen: Erst einmal tief durchschnaufen!
Und dann ist es ganz wesentlich, dass dir deine Kundin oder dein Kunde die Fehler genau benennt. Tatsächlich stufen Kundinnen und Kunden oft Fehler falsch ein. So gibt es ja etwa für unzählige Wörter mehrere Schreibweisen, wenn auch in der Regel eine von Duden bevorzugte.
Jedenfalls kann es da leicht zu Missverständnissen kommen. Hinzu kommt das, was Julia Schoch-Daub als „Geschmäckle“ bezeichnet. So mag eine meiner beiden Lektorinnen zum Beispiel gar nicht gerne Ziffern, Zeichen oder Abkürzungen in Fließtexten, erst recht nicht in belletristischen, und korrigiert entsprechend beziehungsweise macht dahingehend Vorschläge.
Also, wenn bei dir übersehene Fehler moniert werden, frag nach. Und ganz wichtig: Solltest du tatsächlich etwas übersehen haben, dann stehe dazu!
Tipp für Kundinnen und Kunden: Was tun, wenn du denkst, deine Lektorin oder dein Lektor hat Fehler übersehen?
Ein respektvoller Umgang ist gefragt. Kommuniziere klar, wo du welche Fehler entdeckt hast. Oft stellt sich nämlich heraus, dass manch ein „Fehler“ gar keiner ist. Wie Inga Beißwänger deutlich macht, ist eine sachliche und wertschätzende Kommunikation hilfreich. Rasch können sich bei der Fehlerfrage nämlich die Gemüter erhitzen, vor allem dann, wenn ein Text nach dem Lektorat eilig in Druck gehen soll.
Auch das kommt vor: Kundinnen und Kunden bauen nach dem Lektorat neue Fehler ein
Ja, und auch das sollte nicht unerwähnt bleiben. Es kommt vor, dass ein Text sorgfältig lektoriert wurde und im Zuge des Einarbeitens der Korrekturen baut die Kundin oder der Kunde neue Fehler
ein. Wie kann das passieren?
Sie bzw. er hat es eilig, übersieht Korrekturen (gerade im PDF kann das durchaus passieren) oder formuliert Passagen um. Daher kann es sinnvoll sein, nach der Finalisierung des Textes durch
die Auftraggeberin bzw. den Auftraggeber einen weiteren Korrekturdurchgang, genau gesagt ein abschließendes Korrektorat, zu machen, womit man bei einem zweistufigen Korrekturpozess landet.
Also, nicht immer ist die Lektorin oder der Lektor schuld, wenn in einem Manuskript oder in einer Veröffentlichung am Ende noch Fehler drin sind.
Was wir uns alle wünschen
Eine offene Kommunikation. Menschen machen Fehler und Menschen übersehen Fehler. Das ist eben menschlich.
Übrigens übersieht auch künstliche Intelligenz Fehler beziehungsweise kann sogar neue einbauen, wenn wir ihr blind vertrauen. Neulich wollte so ein Helferlein bei der allerletzten Überprüfung nach dem letzten Korrekturdurchgang nämlich partout darauf bestehen, dass „teil“ in der Wendung „er nahm an ... teil“ großzuschreiben ist. Nix da, das letzte Wort haben immer noch wir Menschen!
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Veröffentlicht am 16.5.2023.
Abbildungsnachweis: Foto ganz oben: Shutterstock.com, Bildnr. 137588576, rangizzz | Foto Inga Beißwänger: Caroline Wegener, Carolonia Cross Media | Foto Julia Schoch-Daub: privat | Foto Huberta Weigl: andrea sojka fotografie