Lektoren – Eine Betrachtung

Stapel mit Büchern und eine Kafeetasse

Ein Artikel von Doreen Westphal, die als Lektorin seit inzwischen fünf Jahren die Schreibwerkstatt unterstützt

 

Lektoren lieben es zu lesen. Sie lesen immerzu und fühlen sich heimisch in der Welt von Texten. Das verbindet sie mit den Autoren. Was sie von diesen unterscheidet: Sie müssen nicht schreiben. Manchmal mögen sie es nicht einmal, tun sich gar schwer damit.

 

Weil sie immerzu lesen, werden ihnen Texte vertraut, stellt sich eine Kompetenz in der Beurteilung ihrer Qualität ein. Sie können gute von weniger guten unterscheiden. Und sie wissen, wie man richtig gute noch besser machen kann.

Da muss auch gar kein Neid aufkommen, kann sogar Freundschaft entstehen, wenn sie dann mit genialen Autoren zu tun haben. Denn in deren Textwelten sich aufhalten zu dürfen, ist der Lohn für viele Jahre fleißigen und unermüdlichen Lesens. Eine Freundschaft zwischen einem Autor und seinem Lektor steht auch im Mittelpunkt von Genius, einem britisch-amerikanischen Biopic von 2016.

Es geht um eine wahre Geschichte, die Freundschaft zwischen Max Perkins und Thomas Wolfe – Ersterer Lektor beim New Yorker Verlagshaus „Charles Scribner’s Sons“, Letzterer neben Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald das Genie der amerikanischen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber bevor er das werden konnte, hatte er erst einmal eine Menge Ablehnungen einstecken müssen.

Auch als er dem Star-Lektor nach dessen Begutachtung des riesigen Haufens Papier, dem Manuskript von O Lost, später: Look Homeward, Angel, in dessen Büro gegenübersitzt, ist er auf eine erneute Ablehnung gefasst und wirklich überrascht, als dieser ihm sagt: „Wir werden Ihr Manuskript drucken“ und ihm einen Vorschuss von 500 Dollar in die Hand drückt.

Was wir Zuschauer wissen: Perkins hat die Begutachtung durchaus genossen und sofort gespürt, dass er es bei Thomas Wolfe mit einem großen literarischen Talent zu tun hat. Colin Firth macht das für uns nachvollziehbar.

Er zeigt den stillen, dabei nicht introvertierten, unermüdlichen Textarbeiter, der mit dem Rotstift in der Hand Seite um Seite um Seite um Seite liest – in seinem Büro, täglich im Zug nach Hause, dort angekommen im Wandschrank, nachdem er in seiner großen Villa umsonst nach einem freien Zimmer gesucht hat. Alle sind besetzt, entweder von einer seiner fünf Töchter oder von seiner Frau und deren Theatergruppe. Er liest … und streicht. Das scheint den größten Teil seiner Arbeit auszumachen: den Text von Ballast zu befreien, ihn quasi erst einmal freizulegen.

 

Dass das dem Autor, der an jedem Wort hängt, nicht passt, ist klar. Jude Law gibt den euphorischen Thomas Wolfe. Aber Perkins kann ihn überzeugen. Weil er ihn ernst nimmt und immer wieder betont: "Das ist Ihr Text. Sie entscheiden. Doch schauen Sie hier … Denken Sie noch einmal über den Titel nach … Gehen Sie in die Figur hinein: Wie fühlt es sich für Eugene an, als er sich verliebt …“

 

Das ist wirklich ganz wunderbar anzuschauen: zwei Männer, die beide ihr Handwerk verstehen und eine sehr fruchtbare Arbeitsbeziehung entwickeln, die Bestseller hervorbringt. Und die selbstverständlich darüber hinaus oder gerade auch dadurch einander näherkommen.

 

Der Lektor heute ist wohl nur hin und wieder noch mit einem Rotstift anzutreffen. Er arbeitet an Worddateien und bedient sich für seine Korrekturen und Vorschläge des Korrekturmodus. Sonst unterscheidet sich mein Berufsalltag allerdings kaum von dem im Film gezeigten: Ich lese und lese und lese und lese …

„Genius. Die tausend Seiten einer Freundschaft“


USA, UK 2016; ca. 100 Minuten

Regie: Michael Grandage, Drehbuch: John Logan mit: Colin Firth, Jude Law, Nicole Kidman, Laura Linney

 

Den Film finden Sie unter anderem auf iTunes  und Amazon.


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